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Wissen ebi-aktuell Die Komplementärmedizin ist unverzichtbar

Für Yvonne Gilli ist die Komplementärmedizin unverzichtbar

Dr. med. Yvonne Gilli ist als Präsi­dentin der Ärzte­verbindung FMH die höchste Ärztin der Schweiz. Für sie ist Komple­men­tär­medizin ein wichtiger Teil der Gesund­heits­ver­sorgung.

Interview: Lukas Fuhrer | Dieser Beitrag stammt von millefolia.ch, dem «Schweizer Infoportal für Komplementärmedizin» 

yvonne gilli

Yvonne Gilli, Sie prakti­zieren als Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin FMH in einer Gemein­schafts­praxis in Wil und wenden sowohl Schul­medizin als auch Komple­men­tär­medizin an. Wie kam es dazu?

Yvonne Gilli: Ich habe mich schon während dem Medizin­studium für die Komple­men­tär­medizin inte­res­siert. Davor war ich als Intensiv-Pflege­fachfrau am anderen Ende des Machbarkeitsspektrums tätig: Wie kann man mit maximal speziali­sierter Schul­medizin Leben retten? Dabei habe ich ganz klar die Grenzen der Mach­barkeit erlebt und wurde mit sehr existenziellen Bedürfnissen von Patientinnen und Angehörigen konfrontiert. Ich habe realisiert, wie viele Aspekte auf eine quali­tativ gute Behandlung einwirken und wie gross das Bedürfnis ist, dass auch eigene Behandlungs­vorschläge aufgenommen werden.

Patien­tinnen und Angehörige wünschen sich in der Intensiv­pflege Komple­men­tär­medizin – was sind ihre Erwar­tungen?

Menschen haben gewisse Hemmungen, beispielsweise gegenüber einer Spital­ärztin darüber zu reden, welche Heil­methoden sie anwenden. Merken sie aber, dass ihr Gegen­über offen ist, oder werden sie danach gefragt, dann staunt man, was neben der Schul­medizin alles gemacht wird. Insbe­sondere, wenn Betroffene Angst vor einer gewissen schul­medi­zini­schen Therapie haben, wenn sie unter Neben­wirkungen leiden oder wenn sie eine chroni­sche Erkran­kung haben, die die Schul­medizin zwar beein­flussen, aber nicht heilen kann.

Sie haben sich in klassi­scher Homöo­pathie und Tradi­tio­neller Chine­sischer Medizin (TCM) weiter­gebildet – warum gerade diese beiden Methoden?

Die klassische Homöo­pathie ist mir quasi zugefallen: Es gab Abend­vor­lesungen an der Uni Zürich, die ich aus Neugier besucht habe. Zur Tradi­tio­nellen Chine­sischen Medizin bin ich durch eine Assi­stenz­stelle gekommen, bei der man als Voraus­setzung akupunk­tieren können musste – also habe ich mir die Vorkenntnisse angeeignet. Eigent­lich steche ich aber gar nicht so gerne, viele andere Aspekte der Chine­sischen Medizin wie die Ernährung und die Bewegung interes­sieren mich mehr. Diese lassen sich auch ausge­zeichnet in west­liche Behand­lungs­konzepte ein­bauen, ebenso die Arznei­mittel, die chine­sischen Kräuter.

Der deutsche Gesund­heits­minister, Karl Lauter­bach, will die Homöo­pathie aus den Kassen­leistungen streichen, weil ihre Wirksam­keit nicht belegt sei. Das hat auch hierzu­lande eine Diskus­sion ausgelöst. Wie verläuft diese momentan aus Ihrer Sicht?

Die Komple­men­tär­medizin wird von der Bevöl­kerung immer zusätz­lich zur oder anstelle der Schul­medizin genutzt werden. Sie ist in der Schweiz tief verankert, und die Schul­medizin tut daher gut daran, ihre Verant­wortung wahr­zunehmen, auch in den komple­men­tär­medizinisch Methoden eine hohe Qualität zu gewähr­leisten – mit gut quali­fi­zierten Ärzt­innen und Heil­praktikern.

«Wir tun gut daran, auch in den komple­men­tär­medizinisch Methoden eine hohe Qualität zu gewähr­leisten – mit gut quali­fi­zierten Ärzt­innen und Heil­prak­tikern.»

Das schulden wir der Bevöl­kerung, wir dürfen nicht auf einem Auge blind sein und sagen: Wir machen Schul­medizin, das reicht. Wir schulden es der Bevöl­kerung und ihren Bedürf­nissen, aber auch dem Poten­zial und den Ressourcen der komple­men­tär­medizinisch Methoden.

Es gibt wissen­schaft­liche Studien, die belegen, dass Homöo­pathie bei diversen Symp­tomen eine Verbes­serung des Gesundheits­zustands herbei­führt. Warum haben es diese Belege Ihrer Meinung nach so schwer, zur Kenntnis genommen zu werden?

Wir haben in der Komple­men­tär­medizin einen grossen Forschungs­rückstand, es gibt keine Pharma­industrie, die diese Forschung finan­ziert. Somit haben wir viel mehr Erfahrungs­wissen als Forschungs­wissen. Aber wir sind in der Schweiz in der privi­legierten Lage, dass wir an medi­zini­schen Fakul­täten forschen können und auch Lehr­stühle haben.

«Ich finde es wichtig, dass wir die Forschungs­anstren­gungen in der Komple­men­tär­medizin verstärken.»

Nicht über­raschend führt das zu neuen Forschungs­erkennt­nissen, und die müssen wir natür­lich aktiv in die Öffent­lich­keit, in die Politik und in die Fach­kreise tragen. Und ich halte es für wichtig, dass wir die Forschungs­anstren­gungen ver­stärken.

Die Komple­men­tär­medizin ist ja nicht der grosse Kosten­treiber, dennoch wird in der Politik immer wieder mal argumentiert, man könnte ohne sie die Gesund­heits­kosten senken. Was halten Sie von diesem Argument?

Die Komplementärmedizin verfügt über viel Erfahrungswissen – in der Forschung besteht noch Nachholbedarf. Wir wissen aus den Zahlen, dass die ärztliche Komple­men­tär­medizin nicht prämien­wirksam ist. Die komple­men­tär­medizinisch Leistungen sind ein freiwilliges Angebot für jene, die es nachfragen – würde es aber aus der Grundversicherung gedrängt, dann hätten nicht mehr alle freien Zugang dazu. Entweder müssten sie die Leistungen selbst bezahlen, oder sie müssten eine entsprechende Zusatzversicherung abschliessen. Das kann sich erstens nur eine Minderheit der Bevölkerung leisten, und zweitens bekommt man keine Zusatzversicherung, wenn man unter Vorerkrankungen leidet. Wir behandeln aber ja gerade viele Menschen mit chronischen Erkrankungen und solche, die begleitend zu nebenwirkungsreichen schulmedizinischen Behandlungen Komple­men­tär­medizin beanspruchen. Und genau diese Menschen hätten dann keinen Zugang mehr zu den Leistungen, die jetzt für sie eine grosse Erleichterung darstellen.

Zurück in Ihre Praxis in Wil: Sie arbeiten als Hausärztin mit Schwerpunkt Gynäkologie. Ist da eine sanfte Medizin besonders gefragt?

Sanfte Medizin wie das Training mit der Therapeutin kommt bei der Schweizer Bevölkerung gut an.

Sanftheit wünscht man sich natürlich auch von der Schulmedizin, in einer Schwangerschaft und in der sehr verletzlichen Phase des Säuglings- und Kleinkindalters. Medizin braucht es oft noch gar nicht so viel, es geht um eine Begleitung, nicht um Krankheit. Und es sind Lebensphasen, in denen man sich nicht ausschliesslich auf die Komple­men­tär­medizin verlassen kann, denn wenn es zu Komplikationen kommt, sind diese oft auch aus schulmedizinischer Perspektive nicht harmlos.

«Wenn es um Erkrankungen der Kinder geht, ist die Nachfrage nach Komple­men­tär­medizin gross.»

Ich würde also nie die eine Richtung gegen die andere ausspielen. Die niedrige Müttersterblichkeit haben wir etwa eindeutig der modernen Medizin zu verdanken. Wenn es um Erkrankungen der Kinder geht, ist die Nachfrage nach Komple­men­tär­medizin aber gross, zu einem guten Teil auch, weil die Eltern auf Antibiotika verzichten wollen.

Gerade bei Jugendlichen und Kindern nehmen psychische Beschwerden laufend zu, und die Anlaufstellen der Schulen und Gemeinden sind überlastet. Was hat die Medizin da zu bieten?

Eine sehr schwierige Frage. Die psychiatrisch diagnostizierten Erkrankungen bei jungen Menschen nehmen zu und die Behandlungsangebote ab, es gibt zu wenig Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater. Und es gibt auch zu wenig komple­men­tär­medizinisch ausgebildete Ärztinnen und Ärzte. Die Behandlung ist sehr anspruchsvoll und erfordert zum Teil spezialärztliches Wissen, und sie ist sehr zeitaufwendig.

Unser Ziel muss sein, zu differenzieren: Wo haben wir eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir Ärztinnen und Ärzte gar nicht bewältigen können – etwa die Social-Media-Nutzung, die krank machen kann. Von ärztlicher Seite müssen wir beurteilen, ob ein Kind oder ein Jugendlicher gesund ist, aber in einer Lebenskrise steckt aufgrund der Anforderungen, die das Leben an ihn stellt, seien es Schulstress oder eine Trennung der Eltern. Und erst wenn wir erfasst haben, was die Lebenssituation für diese Person bedeutet, können wir sagen, was das geeignete Behandlungsangebot ist und welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Sicherlich hat die Komple­men­tär­medizin hier auch Potenzial.

Dr. med. Yvonne Gilli

Seit 2021 ist Yvonne Gilli Präsidentin der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH, seit 2016 ist sie Mitglied des Zentralvorstands. Die Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin FMH praktiziert mit Schwerpunkt Gynäkologie in einer Gemeinschafts­praxis in Wil (SG). Yvonne Gilli verfügt über komplementär­medi­zinische Ausbildungen in klassischer Homöo­pathie SVHA und Traditioneller Chinesischer Medizin ASA. Von 2007 bis 2015 sass die heutige FMH-Präsidentin als Nationalrätin der Grünen im Parlament, wo sie sich stark für die Komplementär­medizin einsetzte.


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Tags zum Bericht:
Komplementärmedizin Unternehmenskommunikation

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